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Haftungsfalle „Routine“ – Zurücklassen eines Bauchtuches

Der ärztliche und pflegerische Alltag ist von vielen Routinen geprägt. Hierbei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass auch scheinbar banale Maßnahmen im Versagensfall dramatische Auswirkungen auf den Patienten hervorrufen können.

von Prof. Dr. jur. Volker Großkopf und Michael Schanz

Für die Verantwortlichen hat dies zur Folge, dass Routinemaßnahmen einer steten Kontrolle zu unterziehen sind. Dies gilt umso mehr, weil viele Routinen prozessual dem haftungskritischen Feld des voll beherrschbaren Herrschafts- und Organisationsbereiches zugewiesen sind. Eine jüngst veröffentlichte Entscheidung des OLG München veranschaulicht dies bezüglich der Zählroutine im Zuge einer Operation (RDG 2014, S. 83).

Sachverhalt

Die Klägerin verfolgt ihre rechtlichen Interessen wegen des Zurücklassens eines Bauchtuches im Zuge eines operativen Eingriffs. Bei ihr wurde ein rezidivierendes Liposarkom im Bereich des linken Nierenbeckens mehrfach operativ behandelt. Im Anschluss unterzog sich die Klägerin verschiedenen Chemotherapien in Kombination mit einer regionalen Hyperthermie. Dennoch wurde erneut ein Rezidiv des Liposarkoms festgestellt. Am 07.12.2007 erfolgte deshalb ein umfangreicher operativer Eingriff bei der beklagten Klinik. Dabei blieb unbemerkt ein Bauchtuch im rechten kleinen Becken zurück. Die Klägerin litt in der Folgezeit an Erbrechen. Im Zuge einer radiologischen Funktionsuntersuchung wurde am 11.01.2008 ein röntgendichter, s-förmiger Fremdkörper im Unterbauch festgestellt. Nach einer Ösophago-Gastro-Duodenoskopie wurde eine Magenausgangsstenose diagnostiziert, weshalb eine Ernährungs- und eine Ablaufsonde gelegt wurden. In der Zeit von März bis April 2008 wurden zwei weitere Zyklen einer Chemotherapie mit reduzierter Dosierung durchgeführt. Eine am 12.03. durchgeführte CT-Untersuchung zeigte wieder einen Fremdkörper – es handelte sich hierbei um das zurückgelassene Bauchtuch – im Form einer 9 cm großen Raumforderung intrapelvin, dicht cranial der Harnblase. Am 15.05. wurde der Fremdkörper operativ entfernt. Im Juli 2008 wurde die Chemotherapie fortgesetzt. Die Staginguntersuchung vom 12.08. erbrachte erneut den dringenden Verdacht eines liposarkomatösen Tumorrezidivs, 2009 / 2010 wurden wegen Rezidiven weitere operative Tumorexzisionen im Bauchraum vorgenommen. Die beklagte Klinik hat vorgerichtlich einen Betrag von 6.500 Euro bezahlt. Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Zurücklassen des Bauchtuchs grob fehlerhaft gewesen sei. In Anbetracht der Gesamtumstände sei ein Schmerzensgeld von 70.000 Euro gerechtfertigt. Durch Zuzahlungen u. a. seien weitere materielle Schäden in Höhe von 2.560,05 Euro eingetreten. Da die Entstehung weiterer künftiger Schäden möglich sei, sei auch der Feststellungsantrag begründet.
Das LG München hat die Klage abgewiesen (Az.: 9 O 16332/10). Die Klägerin hat gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt, mit der sie ihre Interessen weiter verfolgt.

Operation

Entscheidung

Die Berufung ist nur zu einem geringen Teil begründet. Das Zurücklassen des Bauchtuchs stellt keinen groben, sondern nur einen einfachen Behandlungsfehler dar. Die postoperativ aufgetretenen Ernährungsstörungen, die zur Anlegung der Ernährungssonde führten, sind nicht auf das Fehlverhalten zurückzuführen, sondern beruhen auf einer hiervon gänzlich unabhängigen Stenose im Bereich des Magenausgangs. Ebenso unbegründet ist der Vorwurf, der Erfolg der Chemotherapie sei durch das Bauchtuch beeinträchtigt worden. Ein Zusammenhang zwischen dem eingebrachten Fremdkörper und dem im August 2008 erneut aufgetretenen Rezidiv ist derart unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung selbst bei der Annahme eines groben Fehlers der Beklagten nicht zugerechnet werden könnte. Allerdings ist der Schmerzensgeldbetrag zu niedrig bemessen. Angemessen ist vielmehr eine Summe von 8.500 Euro. Hinzu kommen noch ein bislang nicht ausgeglichener materieller Schaden in Höhe von 250 Euro sowie anteilige vorgerichtliche Anwaltskosten als erstattungsfähige Positionen. Der Feststellungsantrag ist ebenfalls begründet, allerdings hat dieser nur einen geringen wirtschaftlichen Wert (3.000 Euro), zumal ein grober Fehler nicht vorliegt.

Im Einzelnen

Der Arzt schuldet dem Patienten nicht die erfolgreiche Herstellung seiner Gesundheit, sondern lediglich das sorgfältige Bemühen um Hilfe und Heilung. Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt nicht immer beherrscht werden. Anderes gilt, wenn es nicht um den nur begrenzt steuerbaren Kernbereich ärztlichen Handelns, sondern um die Verwirklichung von Risiken geht, die von dem Träger der Klinik und dem dort tätigen Personal voll beherrscht werden können. Das unbemerkte Zurücklassen eines Fremdkörpers im Operationsgebiet wird einhellig dem voll beherrschbaren Bereich zugeordnet mit der Folge, dass der Krankenhausträger bzw. die Ärzte die Darlegungs- und Beweislast für die Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine sachgemäße und gefahrlose Behandlung tragen. Allerdings indiziert die Verwirklichung eines Risikos aus dem voll beherrschbaren Bereich nicht von vorneherein einen groben Behandlungsfehler. Maßgeblich hierfür sind vielmehr die Gesamtumstände des Einzelfalles. Hier tragen die festgestellten Umstände nur den Vorwurf eines einfachen, nicht eines groben Behandlungsfehlers. Es ist üblich, dass sich der Operateur bei der Überwachung des Materialeinsatzes auf das geschulte Pflegepersonal verlässt. Es ist dessen Aufgabe, das benutzte und verbrauchte Material im Vier-Augen-Prinzip zu zählen und sicherzustellen, dass sämtliche eingebrachten Tücher, Kompressen u. a. vor dem Wundverschluss entfernt wurden. Im Streitfall wurden diese gebotenen Kontroll- und Vorsorgemaßnahmen ergriffen und protokolliert. Auch der Operationsbericht enthält einen ausdrücklichen Vermerk, wonach sämtliches verbrauchtes Material (Bauchtücher, Kompressen etc.) nach dem Ende des Eingriffs vollzählig vorhanden war. Es besteht kein Anlass, der Authentizität des vorgelegten Zählprotokolls zu misstrauen. Letztlich muss es zu einem behandlungsfehlerhaften Zählfehler gekommen sein, entweder bereits beim Einbringen der Tücher oder aber bei der Zählung der zurückerhaltenen Tücher. Angesichts der vorgenommenen Sicherungs- und Kontrollvorkehrungen kann dieser Fehler jedoch nicht als grob bewertet werden.

Fazit

Werden Ansprüche aus dem begrenzt steuerbaren Kernbereich ärztlichen Handelns geltend gemacht, ist der Patient für die substantiierte Darlegung der genauen Umstände des fehlerhaften Handelns verantwortlich. Dieser Grundsatz wird durchbrochen, wenn eine Schädigung aus dem voll beherrschbaren Herrschafts- und Organisationsbereich resultiert. Hierzu zählen auch die organisatorischen Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung von Operationen, wie z. B. die Zählkontrolle der zum Einsatz kommenden OP-Instrumente und -Verbrauchsmaterialien. Dies hatte im Streitfall zur Folge, dass sich die Beweislast für das schuldhafte Fehlverhalten „Zurücklassen des Bauchtuches“ zugunsten des Patienten auf die Beklagtenseite verschoben hat. Ein Entlastungsbeweis ist insoweit nahezu unmöglich gewesen. Für das Qualitätsmanagement in den operativen Einheiten bedeutet dies, dass für sämtliche Tätigkeiten aus den Gesichtspunkten der Haftungsvermeidung und des Patientenschutzes im voll beherrschbaren Herrschafts- und Organisationsbereich eine 100%-ige Ergebnisqualität zu fordern ist. Der vorliegende Fall verdeutlicht jedoch auch, dass die strenge Einhaltung der Qualitätsvorgaben auch einen Beitrag zur Haftungsbegrenzung liefert: Wären die Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung des Zurücklassens von Fremdkörpern nicht getroffen worden, wäre aller Voraussicht nach der Umfang des Schmerzensgeldes deutlich höher bemessen worden.

Aktionsbündnis Patientensicherheit: „Jeder Tupfer zählt!“

Allgemein wird davon ausgegangen, dass das Phänomen unbeabsichtigt belassener Fremdkörper im OP-Gebiet zahlenmäßig eher unter- denn überschätzt wird. Aber ungeachtet der statistischen Häufigkeiten kann das unbeabsichtigte Belassen von Fremdkörpern für den Patienten zu großem persönlichen Schaden führen. Zu den möglichen Folgen zählen Infektionen, Sepsis und Fistelbildungen, Perforationen von Hohlorganen sowie Läsionen von großen Gefäßen und Nerven, zuweilen auch mit tödlichem Verlauf. Manches Mal dauert es Jahre, bis ein übersehener Fremdkörper als Ursache für nicht erklärbare Schmerzen entdeckt wird. Es bedarf deshalb wirksamer Strategien, ein unbeabsichtigtes Übersehen oder Vergessen vom Fremdkörpern im OP-Gebiet weitestgehend auszuschließen. Da es im deutschsprachigen Raum über individuelle Empfehlungen in einzelnen Abteilungen und Einrichtungen hinaus bisher an einheitlichen Standards zur Vermeidung von unbeabsichtigt belassenen Fremdkörpern im OP-Gebiet fehlt, hat das Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (APS) dies im Jahr 2008 zum Anlass genommen, eine interprofessionelle und interdisziplinäre Arbeitsgruppe zu gründen und mit der Erarbeitung gemeinsamer Empfehlungen zu betrauen. Unter der Überschrift „Jeder Tupfer zählt!“ fokussiert die Arbeitsgruppe das Zählen vor, während und nach der Operation. „Jeder Tupfer zählt!“ steht dabei stellvertretend für alle Instrumente und Materialien, die für eine Operation benötigt und ggf. auch zum Einsatz kommen. Die Arbeitsgruppe empfiehlt die Durchführung standardisierter Zählkontrollen mit entsprechender Dokumentation bei Einhaltung eines gleichbleibenden Ablaufs und eindeutig verteilten Zuständigkeiten.

Operationsbesteck
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (APS) wurde im April 2005 als gemeinnütziger Verein gegründet. Vertreter der Gesundheitsberufe, ihrer Verbände und der Patienten­organisationen haben sich in diesem Aktionsbündnis zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Plattform zur Verbesserung der Patientensicherheit in Deutschland aufzubauen. Das Arbeitsprogramm des APS umfasst eine Reihe von konkreten Projekten, mit denen sich die multidisziplinären Arbeitsgruppen des Vereins befassen. Weitere Infos online unter www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de.

Die Autoren: Prof. Dr. jur. Volker Großkopf, Rechtsanwalt, spezialisiert auf Pflege- und Arzthaftungsrecht, Lehrstuhl für Rechtswissenschaften im Fachbereich Gesundheitswesen, Herausgeber der juristischen Fachzeitschrift „Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen“ und Veranstalter des JuraHealth Congresses. Michael Schanz, Chefredakteur „Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen“, Spezialgebiet Arzt- und Pflegerecht

Volker Grosskopf
Michael Schanz